Sonntag, 30. Juli 2017

| Eigenes | Kamikaze II

Should I let you go?


Meiner Tante entging natürlich, nicht dass ich mich veränderte; unglücklicher wurde. Eines Abends, nach Ladenschluss, nahm sie mich zur Seite. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie mir die Haare aus der Stirn strich und mich ernst fragte, in was ich mich da hineingestürzt hatte.
Ich stammelte unzusammenhängende Sätze, beteuerte meine Liebe zu David und wie gut es mir ging. Dass ich endlich tat, was ich wollte, dass ich frei war.
„Das ist keine Freiheit. Er respektiert dich nicht, er besitzt dich nur.“ sagte meine Tante. Sie flehte mich an David zu verlassen, was mich unheimlich wütend machte. Sie gönnte mir mein Glück nur nicht, weil sie eine einsame traurige alte Frau war! Und das sagte ich ihr auch ins Gesicht, bevor ich aufsprang und meine Sachen packte, David anrief und er mich abholte.
Als er den Laden betrat, stellte er sich bedrohlich vor meiner Tante auf und sagte ihr, dass sie aufhören solle mir solchen Unsinn zu erzählen. Als wäre ich ein ungezogenes Kind, bei dem man jedes Wort auf die Goldwaage legen muss.
Er strahlte soviel Aggression und Wut aus, dass ich Angst bekam, er könne meiner Tante etwas antun. In seiner Welt widersprach man ihm nicht. Man nickte und stimmte zu. Das hatte ich in den vier Monaten mit ihm gelernt. Nur widerwillig ließ er sich von mir aus dem Café ziehen. Als wir auf der Straße standen, sah er mich einige Sekunden stumm an, dann nahm er einen großen Stein vom Boden und schleuderte ihn durch das große Panoramafenster. Durch mein Fenster, vor dem ich oft gestanden hatte und von meiner Zukunft geträumt hatte, während ich beobachtet hatte wie die Menschen durch ihr Leben gehetzt, getanzt, gelaufen waren.
Meine Tante und ich sahen uns durch das zerbrochene Fenster geschockt an und ich glaube, in diesem Moment wusste sie es. Dass sie mich gehen lassen musste, auch wenn sie Angst um mich hatte. Dass sie zulassen musste, dass ich diese riesige Dummheit, diesen unaussprechlichen Fehler beging. Doch, im Gegenzug wusste ich, dass sie mich jederzeit mit offenen Armen empfangen würde, wenn ich endlich einsehen würde, dass ich so viel Besseres verdient hatte.
David packte meine Hand und zog mich grob die Straße hinunter, redete auf mich ein, beschuldigte mich. Er war der Meinung, dass ich im tiefsten Inneren meiner Tante zustimmte. Dass ich ihn verlassen würde, so wie jeder es bisher getan hatte. Da er nie über seine Vergangenheit sprach, stellte ich mich vor ihn, nahm seine Hände und fragte: „Wer hat dich verlassen?“
Er antwortete nicht, gab mir nur einen Kuss. Einen sanften Kuss, der mich daran erinnerte, weshalb ich mich überhaupt zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Wir liefen durch die Stadt, genossen die warme Sommernacht, setzten uns ans Wasser und redeten über alles und nichts. In dieser Nacht sah ich, was David für ein Mann sein könnte, wenn er seine Wut in den Griff bekam. Jemand nettes, jemand, mit dem man gut reden konnte, jemand, mit dem man sich sicher fühlte. Jemand, der dir das Gefühl gab das Wichtigste auf der Welt zu sein. Er war für kurze Zeit wieder der Mann, in den ich mich so rettungslos verliebt hatte. Kleine Fetzen seiner Vergangenheit teilte er mit mir; ein alkoholkranker Vater, ein älterer Bruder, der im Gefängnis saß und eine tote Mutter. Das alles erzählte er mit so wenig Gefühl, dass ich mir damals schon die Frage stellte, ob er sich das alles nur ausdachte oder es ihm wirklich so wenig ausmachte.
Wenn ich von David erzähle und die Leute mich fragen, weshalb ich überhaupt mit ihm zusammen blieb – so lange zusammen blieb, nachdem er sein wahres Gesicht gezeigt hatte, dann berichte ich von dieser Nacht. Wie wir barfuß im Brunnen getanzt haben, wie wir spontan mit englischen Touristen Fußball gespielt haben, wie er mich angesehen hat, wie wir auf einer Tischtennisplatte lagen und er mir die Sternbilder erklärt hatte. Wie er mich zärtlich in den Arm nahm, wie er sich vor mir hinkniete und sich für sein Verhalten entschuldigte, mir mit Tränen in den Augen zum ersten Mal seine Liebe gestand und mich anflehte ihm die Chance zu geben mir zu beweisen, dass er ganz anders war. Dass er unter wahnsinnigem Druck gestanden hatte. Auf meine Frage hin, was das für ein Druck gewesen sein soll, antwortete er nicht. Ich wusste eigentlich gar nichts über ihn, wusste nicht mal, als was er arbeitete. Ob er überhaupt arbeitete. Doch jung und verblendet, wie ich war, weinte ich vor Glück, als er mir schwor, noch niemals so empfunden zu haben.
Die nächsten vier Wochen waren die schönsten mit David. Ich zog zu ihm in seine kleine Wohnung und besorgte mir einen Job als Kellnerin in einem gegenüberliegendem Restaurant. Weil alles so gut lief, war ich der Meinung gewesen, dass es sich gelohnt hatte die anfänglichen Stolpersteine zu vergessen und zu verzeihen. David war ein Gentleman – er war nicht mehr eifersüchtig, brachte mir regelmäßig Blumen mit, interessierte sich für meinen Arbeitstag, verwöhnte mich. Täglich beteuerte er mir seine Liebe, dankte mir für die zweite Chance. Vielleicht, hatte er gespürt, dass ich im Begriff gewesen war mich langsam und konsequent von ihm zurückzuziehen.
Obwohl der Sommer mit großen Schritten hinter uns zurückblieb, ging ich nicht an die Uni wie vereinbart.
Stattdessen blieb ich bei David, in der naiven Annahme nichts anderes als seine Liebe zu brauchen, um glücklich zu werden. Meine Eltern schrien mich am Telefon an, bettelten, verhandelten. Doch ich blieb eisern. Als die ersten Blätter sich färbten, änderte sich auch Davids Stimmung wider.
Er wurde mürrisch und gemein. Sein Interesse an meinem Leben flaute ab und er verlangte von mir jeden Abend mit ihm zu verbringen, regte sich unheimlich auf, wenn ich mit Kollegen etwas essen gehen wollte, sprach zwei Tage nicht mit mir, als ich mit einem männlichen Kollegen nach Feierabend noch in eine Bar ging.
An einem kühlen Oktoberabend führte er mich zum Essen aus und ich sah seine liebevolle Seite immer wieder durchbrechen, während wir Händchen haltend auf unser Essen warteten. Ich wurde nicht schlau aus ihm, war aber blind für das Offensichtliche: er litt ganz eindeutig unter geradezu krankhaften Stimmungsumschwüngen.
Nachdem wir gegessen hatten stand er plötzlich auf, nahm meine Hand und forderte mich mitten im überfüllten Lokal zum Tanzen auf. Ich lachte laut, während er mir aufhalf. Trotz der seltsamen Blicke der anderen Gäste tanzten wir eng umschlungen. „Wie romantisch.“, flüsterte eine junge Frau etwa in meinem Alter und guckte böse zu ihrer Begleitung hinüber, der wie besessen auf sein Handy einhämmerte.
Plötzlich nahm David mein Gesicht in seine Hände, gab mir einen Kuss und flüsterte mir ins Ohr: „Lass uns abhauen.“ Ich sah ihn verständnislos an, bemerkte das Glitzern in seinen Augen. Es ging nicht darum, dass er nicht genug Geld dabei hatte, es ging nicht darum, dass das Essen schlecht gewesen wäre, es ging ihm einzig und allein um den Kick. Er wollte ein Abenteuer erleben; darüber redete er ständig, dass er dem tristen Alltag entkommen wollte und Dinge erleben wollte. Was genau er erleben wollte, dass konnte er jedoch nie spezifizieren.
Ich war immer noch damit beschäftigt eine Antwort herauszuwürgen, als David meine Hand fest packte, sich umdrehte und losrannte. Aus purem Reflex wetzte ich hinter ihm her, aus der Tür hinaus und die Straße entlang, bis wir um eine Ecke bogen und fast von einer Straßenbahn überfahren worden wären.
Wir blieben stehen, unsere Hände ineinander verschränkt. „Was sollte das?“ keuchte ich. „Ich will Spaß haben, Maia.“, sagte er nur, ließ meine Hand los und trat einen Schritt von mir zurück. „Aber den willst du ja anscheinend nicht mit mir haben.“
Er tat es schon wieder! Er schaffte es mir wegen einer Frage eine ganze Szene zu machen, legte meine Worte so aus, dass ich am Ende die Böse war. Es war belastend, niemals etwas gegen seine Argumente halten zu können. David war nicht dazu imstande eine simple Diskussion zu führen, ein bisschen hitzig zu gestikulieren, sich Meinungen anzuhören und dann die Meinung anderer zu akzeptieren. Er interpretierte unheimlich viel in einige Aussagen hinein, dass er es schaffte, mir zu unterstellen ich wolle mit ihm Schluss machen, nur weil ich „Nein.“ sagte, wenn er mich fragte, ob wir uns einen Film im Kino anschauen wollten.
Dass ich vielleicht essen oder tanzen oder spazieren gehen wollte, fiel ihm nie ein. Er ging immer davon aus, dass ich ihn verlassen würde. Heute weiß ich, dass er mich meisterhaft manipuliert hat, auch wenn er das selbst vielleicht gar nicht immer bemerkt hat, doch damals hatte ich das dringende Bedürfnis ihm zu beweisen, dass ich nicht einfach gehen würde. Was ich vielleicht viel früher hätte tun sollen, als ich es tatsächlich tat.
Desto mehr Zeit verging, umso anstrengender war es mit David ein vernünftiges Gespräch zu führen. All die Zeit war ich bereit gewesen sein Verhalten mit irgendeinem tief sitzendem Kindheitstrauma zu entschuldigen. Mir war klar gewesen, dass, egal was in seiner Vergangenheit passiert war, nicht entschuldigte wie er mich oder andere behandelte. Doch es hätte zumindest einiges erklärt.
Nicht nur mir gegenüber war David launisch, geradezu böse. Er behandelte seine wenigen Freunde wie den Dreck unter seinen Fingernägeln und innerhalb kürzester Zeit schaffte er es fast jeden zu vergraulen. Ohne Grund explodierte er und schrie die Menschen in seiner Umgebung an, wurde bösartig, brach Versprechen, plauderte Geheimnisse in großer Runde aus.
Sein bester Freund, Robert, ein junger Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen, war einer der wenigen, die sich nicht vertreiben ließen. Eines Morgens im November kam er zu unserer Wohnung und erkundigte sich ob David, da wäre. Ich verneinte, ich wusste nicht, wo er war – er war die gesamte Nacht nicht nach Hause gekommen.
Wir setzten uns mit Kaffee auf den kleinen Balkon und trotzten der unangenehmen Herbstnässe. Ich mochte Robert, er war der Einzige, der es schaffte David einigermaßen in Schach zu halten und wies ihn immer wieder zurecht, wenn dieser mich schlecht oder ungerecht behandelte. Zu dieser Zeit hatte ich schon so gut wie die Hoffnung aufgegeben, dass David mir etwas über seine Beweggründe anvertrauen würde.
„Er war nicht immer so.“, sagte Robert, während er an seinem Kaffee nippte.
Ich sah ihn lange an und fragte mich, wie diese Freundschaft so lange bestehen konnte. Die beiden waren seit dem Kindergarten befreundet. „Gibt es irgendwas in seiner Vergangenheit was diese extremen Stimmungsumschwünge auslösen könnte?“, fragte ich vorsichtig.
Ich hatte es satt im Dunkeln zu tappen und wollte endlich die Wahrheit erfahren. Natürlich, ist mir heute klar, dass ich einfach meine Sachen hätte packen sollen, doch aus mir unbegreiflichen Gründen war ich der Überzeugung, dass ich David helfen könnte sich zu ändern.
„Ich würde dir wirklich gerne irgendeine tragische Geschichte erzählen, warum David sich so stark verändert hat. Aber, das wäre eine Lüge. Stimmungsschwankungen hatte er schon immer, aber sie sind erst seit kurzem so krass.“ Robert zündete sich eine Zigarette an.
„Hat es etwas mit seinen Eltern zu tun? Er hat mir erzählt das seine Mutter tot ist und sein Vater alkoholabhängig ist. Außerdem sitzt sein älterer Bruder wohl im Knast.“ Ich klammerte mich verzweifelt an diese kleinen Informationen, die ich bekommen hatte. Doch meine Hoffnung zerfiel als Robert überrascht auflachte und mich ungläubig anstarrte.
„Das hat er dir erzählt?“
„Ja. Wieso?“
„Maia, das ist Bullshit. Seine Eltern sind beide absolut gesund und sein Vater ist garantiert nicht alkoholabhängig. Ich habe noch niemals einen Menschen getroffen der entschiedener jegliche Art von Alkohol ablehnt. Davids Großvater war Alkoholiker, das ja. Aber genau aus diesem Grund lehnt Manuel, das ist sein Vater, Alkoholkonsum ab. Und was seinen Bruder angeht. Erstmal hat er zwei davon und im Gefängnis sitzt keiner von Beiden. Thomas ist Rechtsanwalt und Lukas ist im letzten Schuljahr und so ziemlich der strebsamste Abiturient, den man sich vorstellen kann.“
Ich starrte ihn geschockt an, öffnete mehrmals den Mund um etwas zu erwidern, doch mir wollte keine passende Antwort einfallen.
„Was soll der Scheiß, Robert?“ ertönte plötzlich Davids Stimme hinter uns. Wir fuhren erschrocken zur Balkontür herum und sahen David an.
Wie er breitbeinig im Türrahmen stand und uns abwechselnd aggressiv anfunkelte, jagte mir Angst ein. In diesem Moment wurde mir endgültig bewusst, dass in dieser Beziehung absolut gar nichts normal verlief. Man sollte keine Angst vor seinem Partner haben. Auch wenn man sich mal stritt, sollte man niemals Angst davor haben, dass der Partner durchdrehen könnte und dich schlagen könnte. Doch genau davor hatte ich an diesem Morgen Angst.
Meine Hände zitterten, als ich meine Kaffeetasse auf die Balkonbrüstung stellte und aufstand. Vorsichtig, als würde ich mich einem scheuen Tier nähern trat ich auf David zu, die Hände erhoben. „Er will dir doch nur helfen.“ versuchte ich die Situation zu entschärfen.
Doch David hörte gar nicht zu. Als ich nur noch einen halben Meter vor ihm stand, schob er mich grob beiseite, stürzte auf Robert zu und bugsierte ihn unter Kraftausdrücken und Geschubse zur Tür. Robert ließ es mit sich machen, hätte er sich gewehrt wäre es wahrscheinlich zu einer ebenbürtigen Schlägerei gekommen.
„Wenn du nicht weißt, wo du hin sollst, dann kannst du bei mir unterkommen, Maia!“, rief Robert mir noch zu, bevor David mit Schwung die Tür zuknallte.
Als er sich langsam zu mir umdrehte, war ich mir absolut sicher dass er mich schlagen würde. Doch, das tat er nicht. Egal, wie wütend er auf mich war. Egal, wie sehr er mich anschrie, beleidigte und erniedrigte. David hat mich nie geschlagen, nicht ein einziges Mal.
Stattdessen stürmte er an mir vorbei, Richtung Schlafzimmer. Ich lief ihm hinterher, langsam, ohne irgendeine Vorstellung davon was ich sagen könnte.
Er stürmte durch das Zimmer, warf eine Reisetasche auf das Bett und begann wahllos meine Sachen hinein zuschmeißen. „Willst du mich rausschmeißen?“, fragte ich vorsichtig.
Er drehte sich nicht zu mir um, packte weiter meine Sachen. „Das sollte ich, aber nein. Wir verreisen.“ verkündete er.
Ich ging einen Schritt in das Zimmer hinein, in der Hoffnung dass er sich so weit abgeregt hatte, dass man mit ihm reden konnte. „Verreisen?“
Er drehte sich schwungvoll um, was mich so erschreckte, dass ich einen Schritt zurücktrat und mit dem Knie schmerzhaft gegen die geöffnete Tür stieß. Das schien David zu amüsieren, denn er lachte kurz auf. „Ja. Verreisen. Wegfahren. Weißt du nicht was das heißt Fräulein Abitur?“
Ich öffnete beleidigt den Mund. „Kein Grund fies zu werden.“
"Falsche Worte, falsche Worte!", schrie mein Verstand mir zu. Und tatsächlich; David trat ganz nah am mich heran, drängte mich gegen die Wand, schloss mich mit seinem Körper ein. „Weißt du was fies ist? Hinter meinem Rücken mit meinem besten Freund über mich zu reden.“ Er packte meine Handgelenke. „Erst denken, dann handeln. Oder bist du zu dumm dafür?“ fragte er mich. Sein Tonfall war aggressiv, sein Griff um meine Handgelenke wurde fester. Ich versuchte ihm meine Arme zu entziehen, doch er drückte nur noch fester zu. „Du tust mir weh.“, flüsterte ich.
Ob du zu dumm dafür bist habe ich dich gefragt?“ wiederholte er laut.
Mir stiegen Tränen in die Augen, doch ich hörte auf mich zu wehren und flüsterte: „Ja.“ Es war nicht das erste Mal, dass ich mich komplett vor ihm fügte. Er behandelte mich schlecht, jagte mir Angst ein, beleidigte mich und ich sah den Fehler bei mir. Wenn ich heute daran zurückdenke, dann würde ich mich am liebsten dafür ohrfeigen.
Anscheinend war er zufrieden mit meiner devoten Antwort, denn er ließ mich los, stürmte zurück zu der Reisetasche, warf sie sich über die Schulter und lief Richtung Haustür. „Komm!“ bellte er, als wäre ich ein ungezogener Hund. Warum ich ihm trotzdem folgte war mir lange Zeit nicht klar. Vielleicht hatte ich Angst davor, was er tun würde, sollte ich mich ihm widersetzen.
Als wir im Auto saßen, fuhr er wie ein Wahnsinniger los, mit völlig überhöhter Geschwindigkeit sauste er durch die Stadt, schnitt unzählige andere Autofahrer und hupte wie ein Verrückter, sollte sich jemand erdreisten sich an die Verkehrsregeln halten.
„David, du fährst zu schnell!“, rief ich ihm überflüssiger Weise zu.
„Ach wirklich? Danke, dass du mir das verrätst du Genie!“ giftete er mich an.
Ich antwortete nicht, war zu sehr damit beschäftigt nicht vor Panik durchzudrehen. Schon nach kurzer Zeit hatten wir die Stadt hinter uns gelassen, was David als Anlass nahm noch schneller zu fahren. Irgendwann fing ich an hysterisch zu schreien, als er immer schneller wurde. Ich brüllte ihn an, versuchte irgendwie an den Mann zu appellieren in den ich mich vor Monaten verliebt hatte. Versuchte den Mann zu erreichen, der mir Komplimente und Geschenke machte. Versuchte, seine Menschlichkeit zu erreichen!
Doch dieser David war verschwunden. Der Mann, der neben mir saß, lachte ausgelassen, während er viel zu schnell die Landstraße entlang jagte. Er ist vollkommen verrückt, schoss es mir durch den Kopf. Ich schloss die Augen und fing an zu weinen, nahm mir fest vor, sollte ich das hier überleben, dann würde ich diesen Wahnsinnigen verlassen, meine Sachen packen, in den Zug springen und zu meinen Eltern zurückkehren. Selbst die Moralpredigt, die mich dort erwartete war besser, als das was David hier gerade tat.
Als ich nur noch ängstlich vor und zurück wippte, die Finger in meine Haare gekrallt, mit der Gewissheit dass David uns gegen den nächsten Baum fahren würde hörte er endlich auf zu lachen. Stattdessen trat er auf die Bremse, das Auto begann auf der Fahrbahn zu schlittern. Alles was ich von diesen Sekunden noch weiß ist, dass ich schrie. Laut, sehr laut. Und David fing wieder an zu lachen und brüllte ausgelassen, als würde er in einer Achterbahn sitzen.
Als das Auto endlich zum Stehen kam, konnte ich kaum glauben, dass ich noch lebte. Ich atmete einige Male tief durch und sah mich dann um. Wir standen mitten auf einer Landstraße, umgeben von Feldern und in einiger Entfernung sah ich einen Wald. Soweit das Auge reichte, sah ich keinen Hinweis auf Zivilisation. Wir waren nicht länger als dreißig Minuten unterwegs gewesen, doch bei der Geschwindigkeit, die mein Freund an den Tag gelegt hatte hätten wir schon in Polen sein können. "Exfreund." dachte ich voller Zorn. Seltsamerweise stimmte dieser Gedanke mich aber auch traurig.
Rückblickend wird mir klar, dass ich in diesem Moment schon genauso kaputt war wie David. Ich sammelte meinen Mut für die große Trennungsbrüllerei, als David die Autotür öffnete, um den Wagen herum spazierte und die Beifahrertür öffnete.
Er beugte sich über mich, stütze sich schmerzhaft auf meinem Obersenkel ab und löste meinen Gurt.
Dann drehte er seinen Kopf, sah mir in die Augen und sagte: „Aussteigen.“
Ich war viel zu geschockt von all den Ereignissen der letzten Stunde, als das ich hätte reagieren können. Also, tat er das was er immer tat, wenn die Menschen um ihn herum nicht sofort nach seiner Pfeife tanzten. Er sorgte dafür, dass alles so geschah wie er es wollte.
David nahm meine Hand und zog grob an mir, damit ich ausstieg. Ich stolperte und fiel auf den Asphalt. David lachte kurz, dann schlug er die Beifahrertür zu, ging um das Auto herum, ließ sich hineinfallen und fuhr los.
Ich hockte völlig geschockt auf der Landstraße und sah dem Auto hinterher. Mir wollte nicht klar werden, dass David mich wie ein ungeliebtes Haustier mitten im Nirgendwo ausgesetzt hatte. Und das alles nur, weil ich mit seinem besten Freund einen Kaffee getrunken und mich über ihn unterhalten hatte.
Der Schalter in meinem Kopf, der immer mal wieder angestupst worden war, legte sich nun endgültig um. Das war alles andere als normal, das war demütigend, erniedrigend, gefährlich! Er liebte mich nicht, hatte es niemals getan. All das wurde mir endlich bewusst, als ich mich aufrappelte und in die Richtung lief, aus der wir gekommen waren.
Während ich wütend vor mich hin stapfte verfluchte ich diesen Bastard in Gedanken immer und immer wieder, schrie die Felder um mich herum an, beleidigte die Vögel. Ich war davor und danach in meinem Leben, bis heute, nie wieder so wütend gewesen wie in diesen Stunden, in denen ich frierend die Landstraße entlanglief und versuchte herauszufinden wo ich mich überhaupt befand. Trotz meiner Wut weinte ich auf meinem Rückweg auch; ich betrauerte mich selbst und meine misslungene Beziehung, überlegte was ich hätte anders machen können. Suchte den Fehler automatisch wieder bei mir, überlegte wie man Davids psychotisches verhalten unter Kontrolle bringen konnte.
Wir waren gar nicht so weit von Berlin entfernt gewesen wie ich zuerst gedacht hatte; es war mir aufgrund meiner eigenen alles einnehmenden Angst nur so lange vorgekommen. Ich konnte von Glück reden, dass David mich „nur“ sechs Stunden Fußmarsch entfernt ausgesetzt hatte.
Die Sonne ging bereits unter, als ich endlich einen Bahnhof in Berlin erreichte und mich völlig erschöpft und wütend in eine S-Bahn setzen konnte. Auf dem Weg hatte ich sämtliche Emotionen durchlebt; Wut, Rache, Trauer, Selbstmitleid. Als ich abends vor unserer Wohnung ankam war die Wut zurückgekehrt. Hell und lodernd brannte sie in mir, als ich wie eine Besessene gegen die Haustür hämmerte. David machte mir die Tür auf, seelenruhig in Jogginghose und T-Shirt. Er sah mich von oben bis unten an und lächelte amüsiert, als wäre ich mal eben runter zum Müll gegangen und hätte meinen Schlüssel vergessen.
„Du hast kürzer gebraucht als ich dachte. Bist wohl doch nicht so dumm, wie ich dachte.“ sagte er herablassend. Ich drängelte mich an ihm vorbei, stürmte ins Schlafzimmer und schmiss wahllos Klamotten in eine Reisetasche. „Was hast du vor?“, fragte David hinter mir. Er hatte tatsächlich die Nerven mich zu fragen, was ich vorhatte! Wie ich ihn in diesem Moment hasste! Dieses Arschloch hatte tatsächlich die Nerven gehabt, die Reisetasche die er am Vormittag zum Schein gepackt hatte, wieder auszuräumen, als hätte er fest damit gerechnet dass ich wiederkommen würde. Und auch bleiben würde!
Ich gehe! Wonach sieht es denn aus?“ schrie ich hysterisch. Jetzt weiß ich, dass ich mit meinem Geschrei alles schlimmer gemacht habe. Ich hätte genauso wie David herablassend und kühl mit ihm reden müssen, hätte ihm in allen Einzelheiten sagen müssen, was er mir gerade angetan hatte. Doch das wusste ich damals noch nicht, also ließ ich all meinen Frust raus. Ich wollte ihm zeigen wie sehr er mich verletzt hatte, mein Vertrauen missbraucht hatte.
„Das wirst du nicht tun.“, sagte er. Ich fuhr ungläubig herum und konnte seinen Tonfall nicht verarbeiten. Er hatte tatsächlich verwirrt geklungen. Als hätte er absolut keine Ahnung, warum ich einen Grund haben sollte ihn zu verlassen.
„Du hast mich wie einen räudigen Köter am Straßenrand aus dem Auto geschmissen!“, brüllte ich ihn an und stampfte zu allem Überfluss auch noch mit meinem Fuß auf.
„Du hast dich ja auch benommen wie ein ungezogener Hund.“, erwiderte er eingeschnappt. David verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen den Türrahmen und langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht auf, als ich geschockt mit den Händen rumfuchtelte und nach Worten suchte.
Er lachte mich aus! Das hatte er immer getan, immer wenn ich versuchte ihm sein Fehlerhalten vor Augen zu führen, lachte er mich aus. Aber nicht unbedingt boshaft, eher so als wäre ich ein süßes Kätzchen, dass die Toilettenspülung betätigte und sich dadurch erschreckte. Das war sogar noch schlimmer, es wäre mir soviel lieber gewesen, wenn er mich einfach boshaft ausgelacht hätte. Es wäre einfacher gewesen, wenn er mir in diesem Moment eröffnet hätte, dass er mich nie geliebt hatte, dass er mich benutzt hatte. Ich wünsche mir, dass er mich beleidigt hätte. Manchmal denke ich sogar, dass es gut gewesen wäre wenn er mich geschlagen hätte; das hätte mich endgültig wachgerüttelt. Das hätte mir so viel Drama und Schmerz erspart.
Doch er tat es nicht. Immer wenn ich streiten wollte, wenn ich die Wütende war, dann verwandelte er sich in einen anderen Mann. Nicht unbedingt nett oder feinfühlig oder reumütig. Aber er war auch nicht so angsteinflößend, kalt und berechenbar wie vor und während seiner Wutausbrüche. Heute weiß ich, dass er mich einfach nur auf psychologisch beeindruckende Weise manipuliert hatte.
Weil ich einfach nicht wusste was ich sagen sollte, drehte ich mich wieder um und zog aufgebracht den Reißverschluss der Tasche zu.
Als David langsam realisierte dass ich es wirklich ernst meinte, sah er mich ungläubig an. Und als ich an ihm Vorbeistürmen wollte, griff er nach meinem Handgelenk; nicht fest, sondern sanft, und sagte ich solle nicht gehen.
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen.“ giftete ich ihn an und entzog ihm meine Hand. Er lief mir hinterher. „Bitte geh nicht. Es tut mir leid!“ wiederholte er immer und immer wieder. Er klang dabei, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
Ich machte den Fehler, mich nochmal umzudrehen und sah schockiert, wie David vor mir auf die Knie fiel, meine Hand nahm und mir in die Augen sah. „Ich liebe dich, Maia. Bitte geh nicht. Lass es mich wieder gut machen.“
„Das kannst du nicht. Weißt du eigentlich wie demütigend sowas ist?“ fragte ich ihn leise. Ich merkte schon wie meine Entschlossenheit ins Schwanken geriet. Es schien ihm wirklich leid zu tun. Und wir reagierten doch alle mal über, oder? Wir taten alle mal Dinge, die wir hinterher bereuten. Und sollte man wirklich für einen Fehler ewig lange büßen? Natürlich, weiß ich heute dass das nicht nur ein kleiner Fehler war, den man im Eifer des Gefechts tat. Er hatte mich emotional mehr misshandelt als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Aber ich war ja auch so dumm gewesen, es mit mir machen zu lachen.
So wie ich in diesem Moment, als David weinend vor mir hockte und mich anflehte ihn nicht zu verlassen, dumm genug war auf die Knie zu fallen, sein Gesicht in meine Hände zu nehmen und mich für ihn zu entscheiden. Ich entschied mich für ihn und damit gegen mich selbst. 


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