Sie steht in der Mitte einer tobenden Menge. Auf der Bühne stimmen die
Musiker die Zugabe an. Um sie herum werden Arme in die Luft geworfen,
Münder werden zu begeisterten Jubelrufen aufgerissen.
Sie
schließt die Augen, versucht die Dunkelheit auszublenden, sich von der
Musik mitreißen zu lassen. Die Dunkelheit ist stärker; sie kann sie
sehen. Langsam pirscht sie heran, tanzt um sie herum, zieht immer engere
Kreise, beobachtet sie.
Dann,
ein unachtsamer Moment, ein Lächeln auf den Lippen des Mädchens als der
Refrain einsetzt und sie mit tausend Anderen den Text brüllt.
Die
Dunkelheit manifestiert sich zu einer großen, dürren Gestalt mit
gebeugtem Rücken, leeren Augenhöhlen und lederartiger Haut, die sich
über die hervortretenden Knochen spannt.
Es springt sie an, krallt sich an ihr fest.
Ihre
Kehle schnürt sich zu, Tränen treten in ihre Augen. Verkrampfte
Schultern, ein unaufhörliches Pochen zwischen den Augen setzt ein.
Sie tanzt weiter, dreht sich im Kreis, klatscht, schreit, tanzt, lächelt.
Das Monster macht ihr keine Angst mehr; seine Angriffe werden schwächer, seltener.
Selbst
als die Geräusche und Stimmen immer lauter erscheinen, ein tiefes
Brummen sich in den Klang der Musik mischt, hört sie nicht auf.
Das
Monster klammert sich fester an sie, langsam frisst es sich in ihre
Gedanken, beginnt die sorgfältig erlernten Gedanken zur Beruhigung und
Akzeptanz auszusaugen und sie mit fiesen, irrationalen Gedanken zu
ersetzen.
Lächelnd
nimmt sie die Herausforderung an. Mit der Zeit hat sie eine Methode
entwickelt auf dem Gefühl zu reiten, sich von der Welle mitreißen zu
lassen und in eine Chance zu verwandeln. Das Monster ist sich nicht
darüber im Klaren, dass es dem Mädchen mit den Angriffen etwas schenkt;
ihr ein Werkzeug in die Hand gibt - Adrenalin in seiner reinsten Form.
Sie dreht sich um, das Monster noch immer am Rücken festgeklammert, nagend, flüsternd, gackernd.
Mit wenigen Handbewegungen gibt sie zwei Männern zu verstehen, was sie möchte, diese zögern nicht lange.
Der
Zeigefinger nach oben deutend, erhobene Arme, wieder der Zeigefinger –
das heißt in jeder Konzertmasse dasselbe. Hebt mich hoch, tragt mich.
Einer
der Männer nickt, gemeinsam heben sie das Mädchen hoch, balancieren
sich aus. In unmittelbarer Umgebung werden weitere Arme gehoben, sie
wird getragen, weiter gereicht.
Das Monster lockert seinen Griff, wird schwächer.
Sein Geflüster wird leiser, undeutlicher.
Mit jedem leiser werdendem Wort wird das Mädchen lauter; sie schreit, brüllt, singt.
Obwohl
sie auf den Händen fremder Menschen herumgereicht wird, an Stellen
berührt wird, die unangenehm sind, manchmal sogar kurz wehtun, schafft
sie es sich aufzusetzen. Während sie singt, streckt sie eine Hand nach
dem Sänger aus.
Das
Monster kann sich nicht länger festhalten, es verliert den Halt und
stürzt. Mit einem tiefen Atemzug des Mädchens verpufft das Monster
wieder zu einem körperlosen Nebel.
Es ist wütend, schwört Rache. Dieser Krieg ist noch nicht vorbei.
Das
Mädchen weiß das. Als sie die Hand des Sängers ergreift, der singend
ebenfalls seine Hand ausstreckt, weiß sie, dass das Monster wiederkommen
wird.
Doch diese Schlacht ist gewonnen.
Unsichtbar
für das Mädchen lauern noch andere Monster in den Schatten, in dem
zuckendem Licht der Bühnenbeleuchtung suchen sie nach ihren Opfern.
Einige
Meter weiter links von dem Mädchen, welches gerade voller Inbrunst
ihren Lieblingssong mit dem Sänger schmettert, wird ein anderes Mädchen,
einige Jahre jünger, von einem anderem Monster beobachtet. Dieses
Mädchen trägt die Nachwirkungen ihrer Kämpfe auf dem ganzen Körper.
Narben,
manche dünn und hell, andere dick und rot, zeichnen ihre Unterarme.
Versteckt für die Menschen um sie herum gibt es auch Erinnerungen an
längst verlorene Kämpfe auf ihren Oberschenkeln, der Hüfte, den
Schlüsselbeinen.
Sie
liebt dieses Lied, würde so gerne wie wild tanzen und alles vergessen.
Doch zu oft wurde sie in ihrem jungen Leben schon angestarrt und
ausgelacht. Zu groß ist die Angst, dass sie auch hier verspottet wird.
Tränen
treten in ihre Augen; sie sehnt sich nach der Klinge, nach dem
brennendem Schmerz. Heute Nacht wird sie tiefer als jemals zuvor
schneiden.
Ganz
hinten steht ein junger Mann. Er kam zu spät; das Konzert war schon fast
vorbei, als er den Saal betrat. Doch das ist ihm egal, nichts und
niemand kann sein Glück heute Abend zerstören.
Freudestrahlend stimmt er in den tosenden Applaus ein als die Band das Lied beendet.
Eine
junge Frau wird auf die Bühne geholt. Sie hat das halbe Lied mit dem
Sänger gesunden, ihre Stimme stark und melodisch. Sie fängt vor Glück an
zu weinen, als sie ein Shirt und eine Umarmung geschenkt bekommt.
Er
lächelt. Ob seine Tochter eines Tages auch so glücklich aussehen wird?
Oder wird es ein Junge? Eigentlich ist es ihm egal, Hauptsache es ist
gesund.
Seine
Frau hat lange gewartet, bis sie es ihm gesagt hat; schon zweimal haben
sie sich zu früh gefreut. Zweimal wurde er vom Krankenhaus angerufen.
Zweimal musste er seine weinende Frau in den Armen halten und sie
trösten, bevor er weinend ins Kinderzimmer ging und die Möbel abbaute.
An der Bar steht ein junges Paar; sie halten sich an den Händen, schauen sich tief in die Augen.
Seit
drei Jahren gehen sie schon ihren Weg gemeinsam. Er atmet nochmal tief
durch, dann greift er in seine Hosentasche und holt einen Ring heraus.
Das
Silber funkelt und glitzert in dem hellen Licht der Scheinwerfer. Die
Frau nickt überschwänglich und gibt ihrem Verlobten einen langen,
innigen Kuss.
In
der Menge stehen viele Menschen; manche hatten den besten Abend ihres
Lebens, manche hatten einen schlechten Tag. Jemand hatte seinen ersten
Kuss. Jemand wurde von der ersten Liebe verlassen.
Jemandes Mutter hatte einen Autounfall. Jemand ist befördert worden; ein anderer gefeuert.
Doch sie stehen alle da; standhaft, der Musik lauschend.
Sie zelebrieren ihr Leben, manche fassen sich an den Händen, andere weinen als die Band das letzte Lied des Abends anstimmt.
Es ist ein langsames, wehmütiges Lied. Voller Sehnsucht, Wünschen und erfüllten Träumen.
Der Sänger lächelt; er hebt die Arme, fängt an zu klatschen.
Das
Publikum steigt ein, zuerst die vorderen Reihen, dann die gesamte
Menschenmasse. Er sieht zu viele traurige Gesichter, zu viele vernarbte
Arme, zu viele Augen in denen vergangener Schmerz sich festgesetzt hat.
Doch er sieht auch Glück, sieht Liebe, sieht Hingabe.
Er
tritt einen Schritt vom Mikrofon zurück, breitet die Arme aus, wirft
den Kopf in den Nacken und lässt das Publikum den Refrain singen.
Tausend Stimmen vereint in diesem Moment. Sein Lächeln ist so breit, dass ihm das Gesicht wehtut.
Er hat es geschafft; seinen Traum erfüllt. Die Menschen singen, fühlen, erleben sein Lied.
Er
hatte immer daran geglaubt eines Tages auf einer Bühne zu stehen und
all den traurigen, zerschundenen, hoffnungslosen Leuten etwas zu geben.
Drei Minuten, an denen sie sich festhalten können.
Worte, die ihnen aus der Seele sprechen.
Eine Melodie, die ein Stück weit heilt.
Heute ist dieser Tag.
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