Montag, 29. Mai 2017

| Oneshot | Spieglein, Spieglein an der Wand ...

Spieglein, Spieglein an der Wand ...


Ich atme tief durch, hebe den Blick. Mein Spiegelbild blickt mir entgegen, verhöhnt mich, beleidigt mich. Rotgeweinte Augen und aufgerissene Lippen ergeben das jämmerliche Bild eines zerbrochenen Mädchens. Ein Mädchen, welches nicht dazu im Stande ist sich zu akzeptieren. Welches immer wieder Stellen findet die ihr nicht genügen.

Sie sieht mitleiderregend aus, ekelhaft, abstoßend. Von sich selbst verachtet. Dabei ist es nicht so sehr das Aussehen; es ist ihre Ausstrahlung. Sie ist schwach. Die gekrümmten Schultern, der eingezogene Kopf, die Augen, welche unruhig hin und her huschen, auf der Suche nach dem Feind. Doch der Feind hockt in ihrem Kopf, wirft unermüdlich mit Beleidigungen und Mantras um sich die sie schwächen, ihr die Kraft rauben, sie in die Knie zwingen.

Plötzlich verändert sich das Spiegelbild. Die glanzlosen Haare wachsen und nehmen einen nie geahnten Glanz an, die brüchigen Fingernägel schütteln den Vitaminmangel ab, laufen spitz zu und strahlen in einem tiefdunklem Rot.

Ich hebe langsam meinen Blick und sehe mich selbst an, doch ich bin nicht das Mädchen im Spiegel. Mir blickt eine Frau entgegen. Sie sieht mir sehr ähnlich, doch dann auch wieder nicht. Ihre Augen sind nicht verquollen vom stundenlangen Weinen, nein, sie strahlen ein Selbstbewusstsein und eine Weisheit aus von der ich nur träumen kann. Doch wir haben dieselbe Augenfarbe, dieselben Gesichtszüge, dieselbe kleine Narbe an der linken Augenbraue.

Ihre Lippen, die meinen so ähnlich sind, verziehen sich zu einem Lächeln. Ich starre sie an. Sie sind nicht perfekt. Die Frau ist nicht perfekt, sie ist nicht das klassische Bild einer Schönheit. Ihre Nase ist zu groß, ihre Unterlippe zu dünn. Doch sie trägt diese unbedeutenden Fehler mit einer Würde die einen faszinieren. Sie strahlt Selbstbewusstsein und Stärke aus, gewonnene Kämpfe und verarbeitete Niederlagen. Sie strahlt die positiven Seiten des Lebens aus.

Ich bin mir sicher, dass viele Leute sich auf der Straße nach dieser Frau umdrehen, ihr hinterher gucken und sich fragen was sie ausstrahlt, dass sie eine solche Wirkung erzielt. Rein optisch betrachtet würde sie in der Masse untergehen. Es gibt nichts was sie hervorhebt, es wird immer eine Frau geben die als hübscher empfunden wird als sie. Doch, ich bin mir sicher dass diese Frau die mir im Spiegel entgegenblickt sich einen Dreck darum schert. Sie weiß, wer sie ist, sie weiß was sie will und alle die ihr auf dem Weg zum persönlichen Glück im Weg stehen werden untergehen, eine Wut entfesseln, mit denen sie nicht umgehen können.

Die Frau hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue und sagt: „Guck dich an. Wie du da stehst. Wie ein jämmerliches kleines Kind, welchem die Schippe geklaut wurde.“

Ihre Stimme ist laut und deutlich, sie spricht in einem Tempo als wäre sie es gewohnt dass man ihr zuhört und es keinerlei Anlass gibt dass sie sich mit ihren Worten beeilt. Ich bin zu geschockt um zu antworten. Starre sie einfach nur an, scheine sie damit zu provozieren. Sie schnaubt verächtlich und lässt ihren Blick an mir herunter wandern.

„Wann willst du anfangen zu kämpfen?“ Es ist nur eine Frage. Eine einfache Frage. Ich könnte behaupten dass ich es bereits tue, dass ich morgen anfange, dass ich in einer Stunde anfangen werde. Doch das wäre gelogen. Ich kämpfe nicht. Ich lasse mich treten und schlagen, beleidigen und verurteilen. Nicht von anderen, von mir selbst. Ich bin mein eigener größter Feind. Und das weiß sie. Denn sie ist ich. Sie ist das Abbild der Frau, die ich werden könnte, während ich das Ergebnis vergebener Chancen und nicht ausgefochtener Kämpfe bin.
„Ich weiß es nicht.“ bringe ich leise heraus.

Die Frau wirft den Kopf in den Nacken und lacht laut. Doch es ist kein fröhliches Lachen, es ist ein gehässiges Lachen. Ein verletzendes Lachen. Eine Waffe, eine Demütigung.
„Dann wirst du niemals das erreichen was du willst.“
„Das weiß ich selbst.“ gebe ich pampig zurück.

„Und trotzdem stehst du da und jammerst.“ Es ist keine Frage, es ist eine Feststellung. „Was muss denn noch passieren, dass du begreifst dass es so nicht weiter gehen kann? Wann wirst du begreifen, dass es ganz alleine von dir abhängt wie deine Zukunft aussieht?“
Ich möchte widersprechen, ihr erklären, dass es nicht so einfach ist, dass es schwer ist, es immer Rückschläge geben wird, es mir nichts bringt all das zu wissen – denn das tue ich – wenn mich irgendwas, eine Kraft zurückhält. Doch im selben Moment, als ich meinen Mund zu einer Antwort öffne, wird mir klar dass diese Kraft, die mich zurückhält, nicht echt ist. Sie ist stark und robust, unerschütterlich und ständig präsent, aber sie ist auch imaginär.

„Ich weiß nicht wie.“ gebe ich kleinlaut zu. Die Frau sieht mich weiterhin an, löst keine Sekunde ihren Blick von mir. Unter ihrem Blick komme ich mir klein und unbedeutend vor. Sie schüchtert mich ein; ihre Ausstrahlung, ihre Präsenz. Es ist zu viel für meine kaputte Welt. Sie ist all das was ich so dringend sein möchte, aber wahrscheinlich niemals sein werde.
Sie ist fehl am Platz in einer Welt die von Zweifeln und Schmerz, von Rückfällen und Tränen beherrscht wird. Da ist kein Platz für Optimismus und Siege. Für einen Menschen, der unter sich selbst leidet ist es unvorstellbar, dass all das irgendwann der Vergangenheit angehören könnte. Es ist wie eine Phantasievorstellung, dass es da draußen jemanden gibt der vielleicht noch mehr Schmerz erleiden musste als man selbst.

Man weiß es, ist sich logisch betrachtet darüber im Klaren, dass es immer jemanden gibt der viel mehr gelitten hat, doch dieses Wissen bewusst zu verwenden, um daran zu arbeiten, dass man irgendwann selbst eine Geschichte von Glück und Siegen erzählt, ist etwas ganz anderes.
„Es fängt bei den kleinen Dingen an.“, sagt die Frau. Sie wartet geduldig, zuckt nicht mit der Wimper, während ich da stehe wie ein Häufchen Elend und versuche meine Gedanken und Gefühle zu sortieren. Sie schweigt, gibt mir damit die Kontrolle über das Gespräch, lässt mich entscheiden, wann ich so weit bin. Anscheinend weiß sie, dass das genau die Art ist wie man mit mir sprechen muss. Ich brauche Zeit, analysiere was mein Gegenüber sagt und denke ernsthaft darüber nach.
Doch im Moment bin ich einfach nur überfordert. Ein pochender Schmerz macht sich in meinem Hinterkopf breit, ich hebe die Hand und streiche mir über den Nacken, öffne den Mund, will etwas sagen.

„Wir haben alle mal Kopfschmerzen, das ist kein Grund Gespräche zu beenden.“ fährt mein mögliches Ich mir über den Mund, bevor ich überhaupt etwas sagen kann. Schnell schließe ich den Mund wieder – denn sie hat Recht. Es ist eine schwache Ausrede um sich nicht mit der Problematik auseinanderzusetzen.

„Was sind das für kleine Dinge?“, frage ich. Meine Stimme klingt verzweifelt. Und das bin ich ja auch. Verzweifelt nach Veränderung, Besserung, Fortschritten. Ich schleppe mich schon so lange durch diese Existenz, will hoch hinaus, doch bleibe am Boden haften. Das Monster hält mich zurück, hat seine Krallen in mir vergraben und lässt nicht locker, egal was ich versuche.
Habe ich es jemals ernsthaft versucht? Ich beginne langsam daran zu zweifeln, nicht nur durch die Frau im Spiegel, auch vorher schon. Habe ich wirklich jemals versucht loszulassen? Oder habe ich die Gefühle nur abgeschaltet, mich abgelenkt als alles zu viel wurde?

Vielleicht ist das Geheimnis, dass ich die Gefühle durchstehen muss, in ihrer vollen Wucht. Dass ich erleben muss, dass jedes Gefühl, egal wie schrecklich es auch ist, vorüber geht und ich es überlebe. Es fühlt sich so an, als würde es mir die Luft zum Atmen nehmen, als würde es meine Energie rauben. Doch, ich habe nie die Augen geschlossen und das Gefühl willkommen geheißen. Habe immer dagegen angekämpft, habe niemals versucht mit dem Strom zu schwimmen, all das Negative zu nehmen, hineinzuspringen und in eine positive Richtung zu ziehen. Ich habe nie versucht mit der Angst zu schwimmen, immer nur dagegen. Dabei ist es so wichtig Gefühle zu empfangen, sie zu erleben und nicht vor ihnen wegzurennen.
Die Frau im Spiegel lächelt wissend, als würde sie hören, was gerade in meinem Kopf vor sich geht. Ihre bloße Anwesenheit ist eine Motivation für mich, sie inspiriert mich, spornt mich an besser zu werden.

„Du gehst den falschen Weg. Du möchtest sofort alles. Es gibt keine Wunderheilung; es gibt nur kleine Schritte. Anstatt alles auf einmal ändern zu wollen, konzentriere dich darauf immer kleine Dinge zu ändern. Lass deinen Berg guter Dinge anwachsen und viele negative Dinge werden sich automatisch verwandeln. Du darfst nur niemals aufgeben. Es gibt keine freien Tage, kein „das mache ich morgen“, kein „es ist ja nur einmal“. Keine Ausnahmen, keine Kompromisse. Du musst wissen, was du willst und eisern daran festhalten, dafür kämpfen und dich niemals unterkriegen lassen.“

Ich lasse ihre Worte auf mich wirken, wälze sie im Kopf herum, nehme sie auseinander. Bilder machen sich in meinem Kopf breit; aus der Vergangenheit und aus der Zukunft. Aus einer Vergangenheit, in der ich normal war, bevor das Monster sich in meinem Kopf breit gemacht hat. Bilder aus einer Zukunft, die ich mir wünsche, ersehne. Eine Zukunft, die möglich ist!
Ich möchte gar nicht so viel; habe nicht vor berühmt oder reich zu sein, möchte nicht mit irgendeinem Promi Sekt schlürfen und auf epische Abrisspartys gehen.
Kleine Dinge sind es die ein gutes Leben für mich ergeben; der erste Schluck Kaffee am Morgen, während ich mein Gesicht in die Sonne halte.

Der Abend mit meinen Freunden; alle lachen und unterhalten sich angeregt. Niemand sieht auf die Uhr oder das Handy, während die Nacht langsam der Dämmerung weicht und niemand den Tisch verlässt.

Das Wummern des Basses, welcher mir durch den ganzen Körper fährt, während ich die Arme ausgestreckt habe, den Kopf in den Nacken werfe und lauthals mitsinge. Umgeben von tausenden von Menschen die dasselbe tun, ein Lied, mit allem was sie haben, brüllen und den Moment genießen. Das Zusammenspiel der vielen verschiedenen Stimmen und Emotionen genießen, ein Teil davon sind.
Das Gefühl des Windes auf meinem Gesicht, während wir die einsame Landstraße entlangfahren. Der Sonne entgegen. Ohne Ziel, ohne Erwartungen. Einfach nur, weil wir es können und wollen.
„Du weißt ganz genau, was du willst.“ fährt die Frau im Spiegel fort. Sie beobachtet mich aufmerksam, bekommt jede kleine Veränderung, jede Gefühlsregung mit. Dann seufzt sie, ein zutiefst menschliches Geräusch. „Das Leben ist beleidigend einfach. Wir machen es uns nur schwer. Schließe die Augen.“

Es ist eine sanfte Anweisung, ein gut gemeinter Befehl. Ich gehorche und schließe die Augen.
Ihre Stimme hüllt mich ein, lässt meine Gedanken schweifen. „Stell’ dir vor all das liegt hinter dir. Deine schlechten Tage gehören der Vergangenheit an, du bist erfolgreich aus der Sache herausgekommen. Stell dir vor du bist wahnsinnig glücklich; so glücklich, dass du nicht aufhören kannst zu grinsen.“

Es funktioniert, ich stelle mir all das vor. Und noch viel mehr. Ich sehe nicht direkt Momente, in denen ich glücklich bin; es ist ein Strudel aus Licht, Gelächter und positiven Empfindungen. Vereinzelte Momente, in denen ich bedingungslos glücklich bin, mit mir selbst und meiner Umwelt im reinen. Ein Leben voller Sonnenschein und Musik, Herausforderungen und Siegen, kleinen Momenten die ich für mich selbst zu großen Momenten ernenne. Nächte die zum Morgen werden, einzelne Tage die zu einer Kette aus guten Erfahrungen verschmelzen. Das Gefühl morgens aufzuwachen und jeden Tag so zu nehmen wie er kommt, egal was er bereit hält. Zu wissen, dass mich nichts so schnell unterkriegen kann, dass ein Großteil aller Probleme und Sorgen komplett unbedeutend sind und keinerlei Aufmerksamkeit bedürfen.

Gespräche und Versprechen im Mondschein. Einsame Landstraßen; nur die Musik, der Wind und ich. Ausgelassene Tanzeinlagen, ungebrochene Versprechen. Das kühle Wasser um meine Fußknöchel. Sonnenaufgänge, die wunderschöne und erfüllende Tage versprechen. Sonnenuntergänge, gefüllt mit Erinnerungen und Liebe. Liebe für mich selbst und für Andere. Schmerzende Beine von stundenlangen Spaziergängen, in denen nichts weiter getan wurde, als zu laufen, zu atmen, zu sein.

Mein Lächeln wird immer breiter und zuversichtlicher. Das ist es, was ich will. Viele kleine Momente, die addiert ein gutes Leben, mein Leben, ergeben. Ich öffne die Augen. Die Frau im Spiegel ist verschwunden. Ich sehe mich selbst. Das Mädchen mit den traurigen Augen, dem kaputten Körper. Zerstört von einer Art zu leben, die mich nie erfüllt hat und niemals erfüllen wird.
Doch ich sehe etwas, was mich erneut zum Lächeln bringt. Da liegt eine Entschlossenheit in meinem Blick, die vorher nicht da gewesen war.

Die Entschlossenheit zu kämpfen und das zu genießen was kommen wird. Die Bereitschaft auch mal eine Niederlage einzustecken, solange ich am nächsten Morgen wieder voller Zuversicht den Tag genießen kann.

Ein Leben voller Zuversicht und Licht. Schmerzhafte Erfahrungen, die in etwas Lehrreiches, positives, gutes verwandelt werden. Mit beiden Beinen fest am Boden während ich nach den Sternen greife, die ich mir selbst aussuche.

Mir kommt die Erkenntnis, dass ich vielleicht – nur, vielleicht – einfach nur meine Art zu denken ändern muss. Meine Art auf Dinge zu reagieren. Meine Definition von Glück.

Es wird nicht sofort alles besser werden. Nichts wird sofort strahlen und glühen, alles braucht seine Zeit. Es gibt Dinge, denen muss man genügend Zeit und Aufmerksamkeit schenken, damit sie sich entfalten und wachsen können. Das eigene Glück steht ganz oben auf dieser Liste.

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