Freitag, 27. Oktober 2017

| Eigenes | Talking to my demons


Ich saß in der Notaufnahme im Wartebereich und sah mir die Menschen an. Keiner von ihnen sah wirklich so aus, als würde er dringende medizinische Hilfe benötigen. Ein älterer Mann, mit schütteren weißem Haar und einer Brille, presste sich die Hände auf den Bauch und krümmte sich, während seine Frau ihm immer und immer wieder im Nacken streichelte.

Okay, vielleicht brauchte er doch medizinische Hilfe. Ganz im Gegenteil zu mir; ich saß seit zwei Stunden hier und wartete auf Tom, meinen Freund. Er hatte sich beim Kochen in die Hand geschnitten. So tief, dass es gar nicht mehr aufgehört hatte zu bluten. Die ganze Küche war voller Blut gewesen, ebenso wie unser teurer Teppichboden im Wohnzimmer, den er mit seinem Blut getränkt hatte, als er die Autoschlüssel gesucht und sich geweigert hatte, draußen zu warten.

Ich atmete tief durch und bemerkte, dass ich von einigen Personen angestarrt wurde. Ich gehörte nicht zu den Leuten die unruhig auf und ab liefen und auf Neuigkeiten warteten. Ich wusste, warum ich hier war; mein Freund hatte Abendessen gekocht, ich war von hinten an ihn rangetreten, hatte ihm etwas Unanständiges ins Ohr geflüstert und daraufhin hatte er sich in die Hand geschnitten.
In zwei Monaten würden wir uns darüber krumm und schief lachen; solange er nicht einen Finger oder so verlor.

Die automatischen Türen der Notaufnahme gingen auf und eine kleine Blondine stützte einen großen, muskelbepackten Typen, der aussah, als hätte er zwölf Runden gegen Klitschko verloren.
Ich saß zu weit weg, um zu verstehen was sie sagten, aber offenbar war ein Matschgesicht genügend Grund, um sofort hereingelassen zu werden.

Die Frau strich ihre Klamotten glatt, sah sich einmal um und bemerkte, dass der einzige freie Platz neben mir war. Sie kam zielstrebig auf den Platz zu, murmelte eine Begrüßung und ließ sich auf den Sessel fallen.

Geschockt bemerkte ich, dass ich sie kannte. Es war Natalie; wir waren zusammen auf die Oberschule gegangen, sieben Jahre in dieselbe Klasse. Und in diesen sieben Jahren, hatte sie mich jeden Tag spüren lassen, dass sie mich kein Stück leiden konnte.

Unwillkürlich verkrampfte ich mich. Es war lange her und doch konnte ich nicht verhindern, dass plötzlich einige Bilder vor meinem innerem Auge auftauchten. Wie sie mich beleidigt hatte, ins Gesicht gespuckt, meine Klamotten zerschnitten hatte. Gut, es war niemals eine kleine Rivalität gewesen, sie hatte mich gemobbt, und zwar über Jahre hinweg, bis ich endlich den Mut gefunden hatte ihr zu sagen, dass sie es unterlassen soll. Dann war ich nur noch Lästermaterial.

„Kennen wir uns nicht?“, fragte sie höflich. Ich reagierte erst nicht, hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich erkennen geschweige denn ansprechen würde.

Ich drehte meinen Kopf, sah ihr in die Augen. Tatsächlich, sie sah mich an und schien auf eine Antwort zu warten.

„Ja, wir waren mal zusammen in einer Klasse.“ war meine Antwort. Ich kam mir dumm vor ihr das erklären zu müssen; wir waren schließlich nicht achtzig Jahre alt und hatten ein ganzes Leben gelebt, bevor wir uns wieder gesehen hatte. Es war gerade mal fünf Jahre her.

Sie wusste ganz genau, wer ich war, das sah ich in ihrem Blick. Ich wartete praktisch auf einen abfälligen Kommentar, auf ein Schnauben, ein Augenrollen. Irgendwas, was mir zeigte, dass sie noch immer die Alte Giftnudel war, wie damals in der Schule, als sie meine Hausaufgaben die Toilette hinuntergespült hatte, weil ich mich weigerte sie abschreiben zu lassen.

„Doreen, richtig?“, fragte sie.
Ich nickte, wartete immer noch auf einen verbalen Angriff.

„Wie ist es dir ergangen?“ Sie klang ehrlich interessiert, was mich mehr verwirrte als alles andere.
Kurz wägte ich meine Möglichkeiten ab; entschied mich dann jedoch für normale Antworten. Vielleicht wusste sie gar nicht mehr, wer ich war, vielleicht hatte sie vergessen, was sie mir alles angetan hatte, wie sie mich behandelt hatte.

Vielleicht war es mir auch gar nicht mehr wichtig. Dass versuchte ich mir jedenfalls auf die Schnelle einzureden.

„Ganz gut. Und dir?“ Diese Frage stellte ich tatsächlich aus ehrlichem Interesse; jeder Mensch, der mal gemobbt wurde, träumt doch insgeheim davon, dass die Peiniger ein schreckliches Leben führen; das nichts funktioniert, dass sie nicht von der Stelle kommen. Insgeheim hoffte ich wohl, dass sie mir sagen würde wie schlecht ihr Leben sei, dass sie nicht wüsste, wie sie weitermachen sollte, dass heute nur ein Tag in einer endlosen Reihe von Hoffnungslosigkeit war.

„Auch gut.“ Okay, diese Worte ruinierten meine Wunschvorstellungen. Wir schwiegen. Es war ein sehr unangenehmes Schweigen, keiner wusste, was er sagen sollte, ob er überhaupt etwas sagen sollte oder ob es nicht besser gewesen wäre einfach den Mund zu halten und diese unangenehme Situation mit so viel Schweigen wie möglich hinter sich zu bringen.

Was sagte man in so einer Situation auch? Es kam mir falsch vor einfach fröhlichen Smalltalk zu betreiben und ich war zu stolz um ein tiefgründigeres Gespräch aufbauen zu wollen.

„Hör zu … es tut mir leid, okay? Was damals alles passiert ist, was ich dir angetan habe. Ich will, dass du weißt, dass ich mich dafür schäme.“ Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber garantiert nicht damit. Verzweifelt überlegte ich, was ich darauf erwidern sollte; es mit einem Schulterzucken abtun? Sagen, dass alles okay war? Dass Kinder nun mal so sind? Nein, das war nicht okay und Kinder waren auch nicht so. Zumal wir keine Kinder mehr gewesen waren, sondern Teenager an der Schwelle zur Verantwortung. Abgesehen davon war es egal in welchem Alter man sich gerade befand, es war niemals in Ordnung jemanden zu verletzen. Niemals.

„Damit ist es nicht getan.“, sagte ich deswegen, hauptsächlich so kurz angebunden, weil ich Angst davor hatte hier in der Notaufnahme in Tränen auszubrechen. Diese Blöße würde ich mir nicht geben, die Situation war auch so schon unangenehm und skurril genug.

Natalie seufzte, fuhr sich durch die Haare. „Ich weiß, aber ich kann es nicht rückgängig machen. Auch wenn ich es inzwischen wirklich gerne tun würde.“

Ich sah sie an; ihre Augen schimmerten von ungeweinten Tränen und einer Schuld, die ich nicht erwartet hatte. Egal, wie oft ich mir vorgestellt hatte diesem Mädchen gegenüberzusitzen – und das hatte ich mir oft vorgestellt. Niemals hatte ich daran gedacht, dass sie sich für ihre Taten entschuldigen würde. Dass sie immer noch dasselbe Biest war, dass ich zur Abwechslung mal sie zum Weinen brachte, dass ich ihr eine filmreife Rede hielt. Doch niemals hatte sie sich in meiner Vorstellung auch nur ansatzweise entschuldigt.

Dennoch spürte ich diese altbekannte Wut in mir lodern; eine Wut, die sich gegen viele Menschen im Laufe der Jahre gerichtet hatte. Doch diese Menschen waren nicht vollzählig, es war nur Natalie hier.

„Wenn du unbedingt darüber reden willst, gut. Es war unmenschlich und respektlos was du und deine Beklopptengang damals alles gemacht habt. Ich hoffe, du bist froh darüber, dass es deine Stimme war die mich in meinen dunkelsten Stunden heimgesucht hat.“ Das war ein Tiefschlag gewesen, das sah ich sofort. Natalie blinzelte heftig, atmete tief ein und kniff die Augen zusammen. Sie kämpfte ganz eindeutig mit den Tränen, das war offensichtlich.

Ich blendete die Leute um mich herum aus, blendete Natalie aus und dachte an meine Schulzeit zurück. An all die Tränen, die Schuldgefühle, die Gedanken ob etwas mit mir nicht stimme, warum man mich so behandelte. Die Beleidigungen, die unfairen Gesten. Das Gelächter, wann immer ich einen Raum betrat. Das Gemurmel im Sportunterricht. Als wir älter geworden waren, ging es auch über auf den Nachmittag; Anrufe Spätabends. Angriffe im Internet, fiese Sprüche unter Fotos, die ich online gestellt hatte. Stück für Stück hatten sie mein Selbstvertrauen zerstört, meine Begeisterung gedämpft, mich verängstigt.

Ich hatte sehr viele Jahre, einige Therapien und Tränen, Blut, Hass, schlaflose Nächte und hoffnungslose Tage gebraucht um zu begreifen, dass mit mir alles in Ordnung war. Wenn jemand einen anderen Menschen verletzt und beleidigt, dann stimmt etwas mit denen nicht und nicht mit einem selbst.

Das ist nichts was über Nacht geschieht; es ist nicht ein dummer Spruch, der jemanden zerstört. Es ist die Regelmäßigkeit der Aktionen, die an den Nerven zerrt und irgendwann, wird die Stimme der Peinigerin in Gedanken durch die eigene gesetzt. Irgendwann, wenn einem immer und immer wieder dasselbe gesagt wird, fängt man an es selbst zu glauben.

Und am Ende mobbt man sich selbst und wenn man nicht aufpasst und sich Hilfe sucht, dann wird das auch nicht einfach verschwinden, sobald man die Situationen hinter sich gelassen hat.
Worte sind etwas so mächtiges, deswegen wird einem seit frühster Kindheit gesagt, dass man aufpassen muss wie man sie einsetzt, was man sagt. Sie sind das was bleibt, wenn der Schmerz und die Scham verschwunden sind, wenn man sich einigermaßen im Griff hat. Wenn all die Tränen der Vergangenheit angehören, dann sind es die Worte die in der dunkelsten Stunde bleiben; wieder kommen und einen immer und immer wieder aufs neue quälen. Ganz gleich, wie viel Zeit vergangen ist, wie viele nette Worte man schon gehört hat, was man alles dagegen unternommen hat.

Ich überlegte, ob ich Natalie das alles sagen sollte, sie ihre eigene Medizin kosten ließ, entschied mich jedoch dagegen. Denn, auch wenn es mir schwerfiel, musste ich anerkennen dass sie hier saß und mich angesprochen hatte, sich entschuldigt hatte. Das hatte sie mit Sicherheit einiges gekostet, vielleicht mehr als ich jemals wahrhaben wollte. Wir können nun mal nicht in die Köpfe anderer Menschen hinein gucken; was für uns eine Leichtigkeit ist, verlangt anderen alles ab was sie in diesem Moment zur Verfügung haben.

Deswegen saß ich einfach nur da; versuchte herauszufinden was ich fühlte, was ich dachte. Etwas, was ich in der Therapie gelernt hatte. Wenn ich nicht wusste was ich sagen oder tun sollte, wenn ich mir unsicher war, was die Situation einschärfen könnte, sollte ich einfach still sein. Komplett. Innerlich und äußerlich alles zum Stillstand zwingen und das tun oder sagen, was sich richtig anfühlte. Was mir als Erstes in den Sinn kam.

„Es hat wehgetan.“ Die Worte verließen meinen Mund bevor ich überhaupt zu Ende gedacht hatte. Jetzt war es auch egal, ich drehte meinen Kopf zu Natalie – sah in ihre großen blauen Augen. Augen, die ehrliches bedauern ausstrahlten.

„Hast du lange damit zu kämpfen gehabt?“, fragte sie vorsichtig, als hätte sie Angst vor der Antwort.
Ich nickte langsam. „Ich habe eine zweijährige Therapie gemacht, um die Stimmen in meinem Kopf irgendwie zum Verstummen zu bringen. Meine Therapeutin hat gesagt, dass sie glaubt, dass das Mobbing zu einem Großteil meine Essstörung ausgelöst hatte.“
„Essstörung?“ wiederholte Natalie geschockt.

Ich wusste nicht, woher die Wut auf einmal kam; doch eigentlich wusste es. Sie war das Produkt all der Schmerzen die diese Frau mir zugefügt hatte. Eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass es unfair war ihr die komplette Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben. Doch, dass sie hier saß und so geschockt war, keine Ahnung davon hatte was sie mir da angetan hatte, sorgte dafür dass ich nur noch wütender wurde. Ich wollte dass sie litt, genauso wie ich jahrelang gelitten hatte. Gekämpft hatte, geweint, geblutet.

„Ja Essstörung. Wenn ich mich recht entsinne, dann war ein ganz beliebten Wort ‚fett‘ und das hat sich nun mal in meinen Gedanken festgesetzt, bis ich es irgendwann selbst geglaubt habe.“ erklärte ich. Ich war selbst überrascht von der Härte in meiner Stimme.

Natalie sah mich immer noch mit großen Augen an, ungeweinte Tränen schimmerten in ihren blauen Augen. „Ich … es …“ sie stotterte herum und irgendwie war das sehr befriedigend.
Natalie atmete tief durch, dann setzte sie erneut zu einer Erklärung an. „Ich war ein Kind. Keine Ahnung wieso, aber damals fand ich es lustig, dich zu ärgern. Heute weiß ich wie falsch das war, dass ich kein Recht dazu hatte. Dass es niemandem zusteht so mit Menschen zu reden. Das wurde mir leider erst klar, als meine kleine Schwester in der Schule gemobbt wurde. Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich viele Nächte geweint habe und bitterlich bereut habe was ich dir angetan habe.“

dieses Geständnis schockte mich, nahm mir den Wind aus den Segeln. Verdammt, ich wollte doch wütend sein! Ich wollte meinen glorreichen Moment der Rache haben, wollte sie innerlich so zerstören, wie sie mich zerstört hatte. Und hier saß sie nun und entschuldigte sich, erklärte mir dass sie begriffen hatte was sie da getan hatte.

Ich wandte den Blick ab, sah mir die anderen Menschen in der Notaufnahme an. Ich hatte kurzzeitig vergessen dass ich mich in einer Notaufnahme befand. Ließ dich Blick schweifen, sah mir die Gesichter der Leute an. Müde Augen, gekrümmte Körperhaltungen. Geflüsterte Gespräche und leise Versprechungen. Notaufnahmen hatte ich immer als kalt und unpersönlich wahrgenommen, ein Wartezimmer des höheren Kalibers. Plötzlich sah ich diesen Raum und all die Menschen hier mit anderen Augen. Es waren alles Menschen mit Geschichten. Sie alle hatten schon Fehler gemacht, einige hatten sie bereut andere vielleicht nicht. Doch, wer war ich um so darüber zu urteilen, dass Menschen Fehler machten? Zählte es nicht viel mehr, dass sie versuchten ihre Fehler wieder gut zu machen? War es nicht dass was uns letztendlich zu Menschen machte? Dass wir vergeben konnten, von vorne anfangen konnten, die Vergangenheit hinter uns lassen.

Ich drehte meinen Kopf wieder in Natalies Richtung. Sie weinte. Stumme Tränen rannen ihre Wangen hinunter. „Es tut mir wirklich leid. Von ganzem Herzen. Du musst mir das Glauben, ich hatte niemals vor dir so sehr wehzutun. Ich wusste nicht dass sich das auf das ganze Leben auswirken würde. Ich kann dir noch nicht mal sagen, warum ich das getan habe. Es ist nicht sodass du mir irgendwas getan hättest. Du warst … ein leichtes Opfer.“

Sie war ehrlich, komplett ehrlich. Und das beeindruckte mich. Dass sie hier vor mir saß, dass sie zugab was sie falsch gemacht hatte. Dass sie einsah, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Und den Mut hatte dazu zustehen und mit der Person, der sie wehgetan hatte, auch noch darüber sprach.
Das erforderte Mut. Ein Mut, den nicht viele Menschen besaßen.

Aufgrund dieser plötzlich Sympathie wählte ich meine Worte mit Bedacht, versuchte sie neutral klingen zu lassen. „Es war nicht leicht für mich. Jedes Mal, wenn ich etwas essen wollte hörte ich deine Stimme, die mir immer wieder sagte, dass ich fett sei. Heute weiß ich dass es deutlich schlimmere Dinge gibt, als fett zu sein. Hungern zum Beispiel. Ich habe lieber fünf Kilo zu viel auf den Rippen, anstatt fünf Tage zu hungern.“

Keine Ahnung wieso ich ihr das sagte; vielleicht wollte ich einfach mal wieder mit jemandem darüber reden. Ich hatte meine Krankheit bekämpft, sie gut unter Kontrolle. Meine Therapie und die jahrelange Arbeit waren ein Erfolg gewesen und selbst einen Rückfall, der mehrere Monate gedauert hatte, hatte ich aus eigener Kraft bezwungen. Alle meine Freunde kannten meine Geschichte, nahm zu gegebenem Anlass Rücksicht darauf. Doch ich hatte schon lange nicht mehr mit jemandem darüber geredet, dem all das vollkommen fremd war. Manchmal brauchte man das einfach, seine Geschichte neu zu erzählen, mit neuem Blickwinkel um sich ein Stück weit weiter die Schlucht hinauf zu ziehen.

„Dabei wusste ich, dass ich nicht fett war.“ fuhr ich fort. Natalie höre mir zu; sie war eine gute Zuhörerin. Sie drängte mich nicht weiterzusprechen, wartete geduldig. Sie versuchte auch nicht sich zu verteidigen, sei saß aufmerksam da und wartete bis ich ihr bis ins kleinste Detail erklärte, was ihre taten bei mir ausgelöst hatten. „Ich glaube, es war mehr die Angst davor gewesen, dass ich es eines Tages sein könnte. Dass alles was du mir an den Kopf geworfen hattest, eines tage wahr werden würde und dass ich dann nichts mehr hatte was ich dem entgegensetzen könnte. Dass du recht haben würdest und das wäre einem Identitätsverlust gleichgekommen.“

Natalie nickte. Und ich glaubte es ihr, dass sie es wirklich verstand. Dass sie begriff, wie schwerwiegend solche Worte sein konnten. Dass das die Art von Wunden waren, die einfach nicht heilten, wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte. Es heilte nicht einfach so, wenn man es nur lange genug in Ruhe ließ; die seelischen Wunden, die waren das schwerste wenn es um Heilung ging. Man musste ihnen Aufmerksamkeit schenken, sie vielleicht sogar nochmal aufreißen, um wirklich eine Heilung in Gang zu setzen. Lange Zeit hatte ich mich geweigert, dass wahrhaben zu wollen. Ein bekanntes Sprichwort sagt „Die Zeit alle Wunden.“ und es stimmt. Damit ist nicht gemeint, dass alles irgendwas vergeben und vergessen ist. Sondern, dass jede Wunde zu einer Narbe wird. Je besser man sie versorgt, umso unscheinbarer und schwächer wird die Narbe. Und irgendwann gehört sie zu einem, wie die Narbe am Knie vom aufgeschlagenen Knie, als man zum ersten Mal ohne Stützräder fuhr und hinfiel.

Narben tun nicht weh, sie sind da, sie sind eine Erinnerungen. Sie sind die Kapitel des Lebens auf der Haut und auf der Seele. Manche Narben tun nur weh, wenn man an ihnen herumdrückt, sie falsch berührt.

Doch im Endeffekt sind sie nur eine blasse EErinnerung, an das was einmal gewesen ist, an eine Wunde, die mal stark geblutet hat.

Ich war bereit nochmal an dieser Narbe herumzudrücken um mit Natalie zusammen ihre Wunde zu versorgen. Denn dass das eine Wunde war, dass erkannte ich daran wie sie weinte, wie sich so viel Schmerz und so viel Schuld in ihrem Blick spiegelte, dass es mir die Kehle zuschnürte.

Mobbing ist nicht in Ordnung, natürlich nicht. Doch vielleicht sollte man, mit genügend Abstand, auch mal daran denken dass der Täter vielleicht auf eine völlig verquere Art und Weise auch nur ein Opfer war, so wie Natalie. Das Opfer der eigenen Unsicherheit.

Sie saß vor mir, Jahre später, nachdem es geschehen war. Und es hatte auch ihr Schmerzen zugefügt. Die Schuld, das Wissen, dass sie etwas getan hatte, was sich nicht auslöschen ließ fraß sie auf. Ich war mir plötzlich ziemlich sicher, dass sie schon deutlich länger mit diesen Ereignissen kämpfte, als sie durchblicken ließ.

„Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass es dir leidtut?“, fragte ich vorsichtig. Natalie lächelte mich voller Schmerz an. Sie streckte kurz die Hand aus, als würde sie nach meiner greifen wollen, entschied sich jedoch dagegen und fuhr sich stattdessen rastlos durch die Haare.

„Wie gesagt, meine kleine Schwester wurde in der Schule gemobbt.“ erklärte sie leise. „Eines Tages kam sie von der Schule nach Hause und weinte. Ich fragte sie was los sei und sie erzählte mir in allen grauenhaften Details was die Mädchen in der Schule ihr an den Kopf warfen, was sie ihr antaten. Obwohl sie ihnen niemals etwas getan hatte. Über die Hälfte davon kam mir sofort bekannt vor, weil es genau das gewesen war was auch ich dir angetan hatte.“

Natalie atmete tief durch, die Tränen quollen immer noch unaufhörlich aus ihren Augen, liefen ihr Gesicht hinunter. Sie machte sich nicht die Mühe sie wegzuwischen.

„In dieser Nacht habe ich viel geweint, habe zum ersten Mal realisiert was ich getan hatte. Es ist nicht sodass ich dich gehasst hätte oder so. Nach dem Schulabschluss habe ich eigentlich kaum an dich gedacht und wenn mich jemand fragte, wenn er ein Klassenfoto sah, wer du seist, dann sagte ich einfach nur deinen Namen und dass wir keinen Kontakt hatten. Es ist nicht sodass ich dich im Nachhinein noch irgendwo schlecht gemacht hätte. Mit dem Schulabschluss warst du einfach nur ein Gesicht aus der Vergangenheit ohne jeglichen persönlichen Bezug.“

Ich hörte zu, glaubte dass sie diesen Monolog brauchte um ihre Gedanken ordnen zu können.
Niemand in der Notaufnahme beachtete uns; wahrscheinlich dachten sie wir würden auf negative Nachrichten warten, so sehr wie Natalie weinte. Sie gab Geräusche von sich, die einem verwundetem Tier glichen. Ihr hübsches Gesicht war verzerrt, tränen feucht und gerötet. Sie trauerte, worum genau wusste ich noch nicht genau, doch ich war bereit es herauszufinden. Einmal mehr viel mir auf dass Trauer nichts Hübsches war. Trauer ist hässlich und gemein und heimtückisch. Egal, ob es die Trauer über ein Ereignis oder die eigenen Handlungen sind, es ist etwas was wehtut, entstellt und furchtbare Dinge anrichten kann, wenn man nicht vorsichtig ist.

Plötzlich sah Natalie mich an, suchte meinen Blick. „Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich kein schlechter Mensch bin.“, sagte Natalie plötzlich. Sie sagte es voller Überzeugung, voller verzweifelter Sehnsucht. Ich weiß nicht, ob sie sich selbst oder mich überzeugen wollte.

Doch irgendwie tat sie mir leid; ich glaubte nicht dass sie mir etwas vorspielte. Niemand kann so einen Nervenzusammenbruch vorspielen, da hatte ich schon oscarprämierte Schauspieler unglaubwürdiger in Filmen zusammenbrechen sehen.

Also tat ich etwas, was ich bis vor fünf Minuten niemals von mir gedacht hätte: ich streckte meine Hand aus und ergriff ihre.

Sie sah mich überrascht an, doch in ihrem Blick lag auch Dankbarkeit. „Ich habe mit dieser Sache abgeschlossen und ich finde, dass solltest du auch tun.“ erklärte ich ihr langsam. Es war mir wichtig, dass sie es nicht nur tat, um mich zu beruhigen, sie musste es tun, um sich selbst zu beruhigen. „Ich vergebe dir.“, sagte ich, blickte ihr fest in die Augen.

Natalie schnappte nach Luft, machte große Augen, sah mich an. Lange und intensiv. Dann schüttelte sie vorsichtig den Kopf. „Wieso?“

„Weil wir alle Fehler machen. Weil wir alle unsicher sind. Weil man manchmal erst später mitbekommt was man eigentlich getan hat.“

Ich atmete tief durch, versuchte meine Gedanken in verständliche Worte zu fassen. „Es war fies was du getan hast. Fies und schmerzhaft und ungerechtfertigt. Doch ich sehe, dass es dir leidtut. Und vielleicht ist das alles was von dieser Zeit noch übrig ist. Reue. Und ich möchte nicht, dass du dir in fünfzig oder sechzig Jahren auf deinem Sterbebett die Augen aus dem Kopf weinst, weil du nie die Möglichkeit hattest dich zu entschuldigen.“

Natalie verstand. „Es tut mir leid.“, sagte sie noch ein mal.
„Ich weiß. Mir auch.“ flüsterte ich.

Und dann saßen wir einfach nur da, hielten uns an den Händen und ich kam nicht umhin stolz auf mich zu sein. Denn es stimmte was ich gesagt hatte; ich vergab ihr. Wir machten alle Fehler, taten alle Dinge die wir irgendwann bereuten und nicht mehr verstanden. Und wer war ich einen lebenslangen Groll zu hegen? Das tat mir nicht gut, das tat Natalie nicht gut. Ich hatte nicht das Recht sie so sehr mit Schuldgefühlen zu quälen, wenn ich vergeben konnte, wenn ich es hinter mir lassen konnte. Man konnte vergeben, man musste es nur versuchen.

Es gab Dinge die Narben hinterließen, Dinge, die für immer im Gedächtnis bleiben würde. Doch es war unsere Entscheidung wie wir damit umgingen. Ich hatte mich dafür entschieden etwas von meiner Medizin Natalie für ihre Narben zu geben. Und ich war mir in diesem Moment sicher, dass sie sie dankbar annehmen und weise verwenden würde.

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